RÜSSELSHEIM – Sätze wie „Ich singe im Gesangverein“ spielen in der Altersklasse U30 in etwa in einer Liga wie ein Outing als Briefmarkensammler, Mitglied einer Klöppelgruppe oder als passionierter Kaninchenzüchter. Gerade einmal 17 Prozent der aktiven Sänger in Hessen sind jünger als 27 Jahre. Und genau das bekommen viele Chöre auch zu spüren. Von Nachwuchsproblemen geplagt müssen sich immer wieder Gesangvereine mit existenziellen Fragen auseinandersetzen. Besonders schmerzlich, wenn das wie im Falle der 2016 aufgelösten Rüsselsheimer Germania, nach über 140 Jahren geschieht. Ist das das Ende einer ganzen Gattung von Vereinen, die neben Turnern und politischen Clubs zu den traditionsreichsten Vereinigungen in Deutschland zählt?
Mitnichten. Wer sich von der Vitalität und Ausstrahlung des gemeinschaftlichen Singens überzeugen will, der muss gar nicht lange suchen. Eines der Erfolgsprojekte hat im Rüsselsheimer Treff sein Hauptquartier. Immer donnerstags treffen sich dort zwischen 50 und 70 Sängerinnen und Sänger zur Probe ihres Chors „CantaRona“. Das Besondere dabei: Nicht nur hat der Chor eine stattliche Größe, von der viele andere Ensembles mittlerweile nur noch träumen können. „CantaRona“ ist auch altermäßig so durchmischt wie wenige andere.
„Momentan haben wir eine Altersspanne von elf bis 75 Jahren. Es kommt vor, dass aus einer Familie drei Generationen gleichzeitig hier mitsingen“, erzählt Frank Brogl, der die organisatorischen Fäden in der Hand hält. Irgendetwas scheint bei „CantaRona“ besser zu funktionieren als bei anderen Chören. Auch von offizieller Seite wurde das bereits wahrgenommen. So hat „CantaRona“ vor Kurzem einen Preis für zukunftsorientierte Chor- und Jugendarbeit ergattert und den zweiten Preis beim Chorwettbewerb der Sparkassenstiftung Groß-Gerau erhalten.
Themenchor mit festem Genre? Projektarbeit mit zeitlicher Begrenzung? All das ist „CantaRona“ nicht – und zwar ganz bewusst. „In einem Themenchor, wo es nur Musicals gibt oder Gospel – wahrscheinlich würde ich mich dran satt singen“, kann sich der 26-jährige Felix Reinheimer eine striktere Ausrichtung nicht vorstellen. Für Sängerin Lisa Henß ist die Motivation auch eine emotionale Sache: „Egal wie ich drauf bin oder was ich am Tag erlebt habe – wenn ich hier aus der Probe rauskomme, geht es mir einfach gut.“ Und der Gute-Laune-Effekt hat für die 26-Jährige vor allem einen Grund: „Das steht und fällt mit Bianca.“ Felix Reinheimer nickt.
„Bianca“, das ist Bianca Heintze, die musikalische Leiterin des Chores. Ihr Rezept: „Von allem etwas. Musikalisch wie didaktisch.“ Dass sich das beliebiger anhört, als es in Wahrheit ist, merkt jeder, der mal eine Probe von „CantaRona“ miterlebt. Heintze versteht es, ihre 70 Stimmen gleichermaßen unter Kontrolle wie die Stimmung im Saal hoch zu halten. Abwechselnd werden in der Probe polyphone Chorsätze in überzeugende Klangbilder umgesetzt und Tränen gelacht.
Wer dem Erfolgsgeheimnis noch weiter auf die Spur kommen will, für den lohnt sich auch ein Blick in die Anfangszeit des Chores. Ins Leben gerufen wurde „CantaRona“, noch nicht unter diesem Namen, zum 50-jährigen Jubiläum der Max-Planck-Schule. Schüler, Lehrer, Eltern und Ehemalige fanden sich zusammen, um gemeinsam mit Bianca Heintze, Lehrerin an der Planckschule, einen sängerischen Beitrag zu erarbeiten. „Das war wirklich eine tolle Stimmung und nach dem Konzert haben wir zusammengesessen und uns gefragt: Und – was machen wir jetzt?“, erinnert sich Heintze.
Die eigentliche Frage war aber weniger das „Was“ als das „Wie“ des Weitermachens. „Das Ganze weiter als Projektchor laufen zu lassen, war für uns keine Option. Unser Ziel war es, etwas Kontinuierliches zu schaffen. Eine verlässliche Struktur, die auch eine finanzielle Basis für die Aktivitäten ermöglicht“, erläutert Brogl. Und mit der gesunden, durchmischten Altersstruktur brachte man eine wesentliche Rahmenbedingung für langfristigen Erfolg schon mit.
Dass aus dem Projekt ein dauerhaftes Ensemble werden konnte, hat aber auch damit zu tun, dass die „CantaRona“-Aktiven im 1910 gegründeten Männergesangverein Liederkranz Rüsselsheim-Haßloch und seinem Vorsitzenden Hermann Wolf einen starken und erfahrenen Kooperationspartner finden konnten. „Das hat nur geklappt, weil auf beiden Seiten der Wille da war und gegenseitiges Vertrauen“, sagt Brogl mit großer Anerkennung dafür, dass der Liederkranz die Entscheidung traf, nach über 100 Jahren erstmals einen gemischten Chor aufzunehmen: „Das ist eben der große Unterschied bei Traditionschören. Entweder ich bin erfahren und arbeite mit dieser Erfahrung konstruktiv. Oder ich bin verkrustet – und was dann passiert, kann man sich vorstellen.“
Das sieht auch der Sprecher des Hessischen Sängerbundes, Lutz Berger, so: „Demografisch haben besonders reine Männerchöre gerade noch ein massives Problem mit dem Nachwuchs. Wem es aber gelingt, junge Mitglieder mit einzubinden – und damit meine ich ehrlich und konsequent auch in Verantwortung zu bringen – dann hat jeder Chor gute Chancen.“ Auch zeitlich begrenzte Projekte könnten den eigenen Chor attraktiver machen. Nachhaltig wirken würden diese aber natürlich nur, wenn sie vom Charakter der eigentlichen Chorarbeit nicht zu weit entfernt sind: „Wer ein ABBA-Projekt macht und sonst nur Volkslieder singt, der wird nach Ende des Projektes schwer die Neumitglieder binden können.“
Beim Liederkranz stehen die beiden Chöre, Männerchor und „CantaRona“ immer wieder auch gemeinsam auf der Bühne und auch der Gesamtvorstand ist paritätisch besetzt. Und damit sich das Erfolgskonzept auch weiter so entwickelt, sind die „CantaRona“-Aktiven natürlich stetig auf der Suche nach neuen Mitgliedern. Berührungsängste muss bei der sympathischen Truppe niemand haben, Vorsingen gibt es auch nicht. Oder um es mit den Worten von Bianca Heintze zu sagen: „Jeder kann singen. Einfach vorbeikommen und mitmachen. Immer donnerstags, 18.30 Uhr.“
„Mainspitze 12.03.2018“